Lieber Herr Timm Mit dem Tod von Günter Grass ist eine der mächtigsten Stimmen der deutschen Literatur verstummt. Der Erstlingsroman «Die Blechtrommel» hatte Grass 1999 – 40 Jahre nach der Veröffentlichung – den Literaturnobelpreis eingebracht und zuvor im Nachkriegsdeutschland den Nerv der Zeit getroffen und eine Verständigungsbasis geschaffen. Grass war somit auch eine der prägenden Figuren der alten Bundesrepublik, wie Roman Bucheli in seinem Nachruf schreibt. Quelle: NZZ.ch. Häutungen eines Dichters Zum Tod der Jahrhundertfigur kommen im Feuilleton Volker Schlöndorff, Peter von Matt, Alexander Kluge, Ingo Schulze, Heinrich Detering, Georg Klein, Adam Zagajewski und Marko Martin zu Wort und würdigen
Mit dem Trommler Oskar Matzerath hat Günter Grass in dem Roman «Die Blechtrommel» eine emblematische Figur geschaffen. Zuletzt wurde er selber ein Trommler seiner Zeit. |
Quelle: http://beta.nzz.ch/feuilleton/haeutungen-eines-dichters-1.18521486?extcid=Newsletter_14042015_Top-News_am_Morgen
Als 1901 Thomas Manns Roman «Buddenbrooks» erschien,
las ein staunendes Publikum nicht nur über den «Verfall einer Familie», wie es im Untertitel hiess.
Der Roman zeichnete auch ein mit poetischer wie antizipatorischer Kraft gezeichnetes Sitten- und Epochengemälde.
Was es mit dem «Verfall» im Weiteren auf sich hatte, zeigte die Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Dieses fand überdies in Manns Romanen «Der Zauberberg» oder «Doktor Faustus» eminente Deutungen.
1929 wurde Thomas Mann ausdrücklich für die «Buddenbrooks» mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.
Drastisch-kraftvolle Prosa
Gleiches widerfuhr 1999 – am Ende des denkwürdigen Jahrhunderts des Grauens – Günter Grass.
Auch er wurde ausdrücklich für «Die Blechtrommel», seinen Erstlingsroman von 1959, mit dem Nobelpreis gewürdigt.
Freilich mit anderem Temperament als Thomas Mann eröffnete Grass darin einen ebenso aufwühlenden Blick auf die zurückliegenden Jahrzehnte.
Einen Verfall zeigte auch er, jedoch zerfiel hier ein ganzes Land, es zerfielen die Menschen und ihre Sitten.
Grass scheute das Drastische nicht:
Seine urwüchsig kraftvolle Prosa wühlte sich mit ihren Figuren lustvoll durch das Erdreich,
sie gab sich dem ordinär-vulgären Tonfall des entfesselten Nationalismus hin,
sie zeichnete mit Hingabe den enthemmten Sexus in all seinen zarten wie makabren Spielformen nach.
Dieser Rückblick voller erzählerischer Poesie und Potenz auf die Jahre des Nationalsozialismus schreckte viele Zeitgenossen.
Das Buch durchbrach sämtliche Schranken der bürgerlichen Moral, und es kündigte den ästhetischen Konsens darüber,
wie über den Zweiten Weltkrieg,
wie über Schuld und Verbrechen,
wie über das Verschwiegene zu reden und zu schreiben sei, auf.
Der Expressionismus hatte es bereits vorgemacht am Beginn des Ersten Weltkriegs:
Die zarten Empfindungen verdienen keine moralische Schonung, wenn es darum geht,
das Versagen der Moral mit den Mitteln der Kunst zu benennen.
«Die Blechtrommel»
war zwar ein Roman des Rückblicks, aber das Buch schuf die Grundlage einer Selbstverständigung im Nachkriegsdeutschland.
Wie kaum ein anderes wirkte es in eine Gegenwart, in der das Vergangene Raum und Sprache finden konnte.
So war dieses Buch des Schreckens zugleich seinerseits ein Schrecken und manchen ein Ärgernis.
Und trotzdem traf es den Nerv der Zeit.
Es wurde zum grandiosen Bucherfolg und drang erst recht mit Volker Schlöndorffs Verfilmung von 1979 in ein kollektives Bewusstsein ein.
In dem Trommler Oskar Matzerath erkannte das Kinopublikum geradezu die emblematische Darstellung einer eigenen historischen Heimsuchung.
Zehn Jahre nach Verabschiedung des deutschen Grundgesetzes stellte dieser Roman 1959 gleichsam dessen literarische Ergänzung dar
und damit
so etwas wie das erweiterte Gründungsdokument der Bundesrepublik.
Der Roman hob das Gespräch über die deutsche Schuld am Völkermord und über den Nationalsozialismus nicht auf eine neue Grundlage:
Er gab ihm zuallererst den Anstoss.
Verwandlungen
Zu den ersten, die dies erkannten, gehörten die Mitglieder der Gruppe 47 unter Hans Werner Richter, in deren Kreis Günter Grass 1958 erstmals Auszüge aus dem Manuskript vorlas.
Die Lesung muss die Zuhörenden so sehr erschüttert haben, dass alle anderen Texte danach nebensächlich wirken mussten, berichtete einmal Hans Werner Richter.
Aber vielleicht zeigte sich bereits in dieser Runde der Ergriffenheit, in welche Befangenheit das Buch noch selbst verstrickt war und in welches Dilemma es seinen Autor dereinst führen sollte.
Die elementare Wucht der Prosa verwandelte ihren Inhalt seinerseits in ein Elementarereignis.
In der Gewalt seiner erstmaligen drastischen Schilderung steckte bereits die Möglichkeit seiner Mystifizierung und erzählerischen Überhöhung.
Als sich die Novelle «Katz und Maus» und der Roman «Hundejahre» mit der «Blechtrommel»
zur sogenannten «Danziger Trilogie» fügten,
hatte Günter Grass bereits zahlreiche Häutungen hinter sich.
Am 16. Oktober 1927 in Danzig als Sohn eines deutsch-protestantischen Vaters und einer aus der Kaschubei stammenden katholischen Mutter geboren,
studierte Grass nach Kriegsdienst und Kriegsgefangenschaft ab 1948 Bildhauerei und Grafik an der Kunstakademie Düsseldorf
und ab 1953 in Berlin.
1956 debütierte er mit dem Gedichtband «Die Vorzüge der Windhühner», den Gottfried Benn mit den Worten kommentiert haben soll:
«Der Mann wird mal Prosa schreiben.»
Grass lebte da und noch bis 1960 in Paris,
schrieb tatsächlich und fortan vor allem Prosa,
lernte Paul Celan kennen und den französischen Existenzialismus.
Mit Oskar Matzerath aber hatte er seine Rolle gefunden.
Günter Grass wurde nun seinerseits zum ewigen Trommler.
Auch wenn er weiterhin virtuos zwischen den Genres und Kunstformen pendelte, bald Theaterstücke schrieb und Gedichte in seine Prosa einfliessen liess,
bald bildnerisch tätig war:
Die Rolle des Schriftstellers als Citoyen und das literarische Engagement erfuhren mit ihm neue Interpretationen.
Das im literarischen Feld gewonnene Prestige setzte er in der Politik ein:
Er wurde zum Wahlkämpfer Willy Brandts und gab keine Ruhe, bis dieser im Kanzleramt sass.
Und das Politische floss fortan eher als die Poesie des Gestaltens in seine Prosa.
Er antizipierte nun weniger den Geist der Zeit, als dass er ihm sekundierte.
Mitte der achtziger Jahre
wurde Grass unter dem Eindruck des Waldsterbens und des Wettrüstens zum Apokalyptiker und schrieb 1986 in dem Roman «Die Rättin»
das Logbuch des deutschen Weltuntergangs.
Nach dem Fall der Mauer
und der Wiedervereinigung Deutschlands
liess er in dem Roman «Ein weites Feld» 1995 Theodor Fontane wieder auferstehen
und machte dessen Reinkarnation zum Sprachrohr aller Ansichten und Meinungen, die Günter Grass zuvor zur deutschen Einheit hatte verlauten lassen.
Erlahmt war die literarische Imagination, die in der «Danziger Trilogie» aus der Vergangenheit jenen Funken schlug, in dessen Aufblitzen die Gegenwart sich selbst neu erkennen konnte.
Das galt umso mehr für den nun freilich alles Frühere konterkarierenden Versuch einer deutschen Selbstversöhnung in der Novelle «Im Krebsgang» (2002).
Wiederum sprang Grass geradezu opportunistisch auf die historisch-politische Debatte um den Bombenkrieg auf
und versuchte seinerseits die deutsche Schuld zu relativieren
mit dem Hinweis auf die an deutschen Flüchtlingen am Kriegsende begangenen Kriegsverbrechen.
Hier kündete sich bereits irritierend eine letzte Häutung an,
die zumal die literarische Bedeutung des Frühwerks von Günter Grass zwar nicht schmälerte,
aber doch einen Schatten von fast tragischem Ausmass auf Leben und Werk des Literaturnobelpreisträgers warf:
2006 eröffnete Günter Grass einem fassungslosen Publikum in dem Buch «Beim Häuten der Zwiebel»,
das weitschweifend von der Jugend in Danzig und den Kriegsjahren berichtet,
dass er gegen Ende des Krieges Mitglied der Waffen-SS gewesen sei
und als Panzerschütze gedient habe.
Bis dahin hatte er daran festgehalten, als Flakhelfer in amerikanische Gefangenschaft geraten zu sein.
Nicht das Faktum selber mochte man dem damals 17-Jährigen ernsthaft vorwerfen.
Dass er es so lange verschwiegen hatte,
dass er sich in all dieser Zeit die Rolle eines moralischen Gewissens hatte aufdrängen lassen
und dass er das Eingeständnis zuletzt mit so viel Aplomb wie Uneinsichtigkeit vorgetragen hatte:
Es war, als käme erst damit ein Bild zur Vollständigkeit, das auch Günter Grass, gerade er als eine der prägenden Figuren der Bundesrepublik, verkörpert hatte.
Die Zerrissenheit als Signatur der Epoche
hatte sich seiner eigenen Biografie – wie der Biografie der Mehrheit seiner Zeitgenossen und seiner literarischen Figuren – unauslöschbar eingeschrieben.
Emblematisches Werk
Günter Grass teilte mit Thomas Mann einen in Dichtkunst verwandelten
moralischen Rigorismus.
Aber während Thomas Mann menschlich und literarisch wachsen konnte an den Forderungen einer unerbittlichen Zeit,
glänzte und scheiterte Günter Grass gleichermassen unter der Last verdrängter Erinnerungen.
Sie trieben ihn an zu einem Lebenswerk, das von nichts anderem zu erzählen schien als von dem Verschwiegenen.
Das im Literarischen Geleistete und sein wachsender Erfolg liessen ihn lange glauben,
das Schweigen zur eigenen Vergangenheit nicht brechen zu müssen.
Am Montag ist Günter Grass in Lübeck im Alter von 87 Jahren gestorben.
In seinem Werk haben seine Zeit und sein Leben einen emblematischen Ausdruck gefunden.
Anders freilich, als er es sich vorgestellt hatte.
Die poetische Wahrheit seines Werkes vervollständigte sich erst in den Widerständen, gegen die sie sich durchzusetzen hatte.
Auch daran erkennt man Jahrhundertfiguren.